Phänomen aus der Mitte? Antisemitismus in Deutschland - Free Audiobook

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Deutschland 2014: "Jude, Jude, feiges Schwein!, komm heraus und kämpf allein", "Kindermörder Israel" (Berlin), "Scheiß Juden!" (Leipzig), "Stoppt den Judenterror!” (Essen). Solche explizit antisemitischen Parolen waren im Sommer 2014 anlässlich des Gaza-Konflikts in Nahost auf anti-israelischen Demonstrationen lautstark in vielen deutschen Städten zu hören und auf Plakaten zu lesen.

Gleichzeitig kommt es im Internet (in den sozialen Medien, auf Twitter und in den Kommentarbereichen) zu einer kaum noch zu überblickenden Flut von judenfeindlichen Äußerungen mit NS-Vergleichen wie "Juden seien die Nazis von heute" und "Gaza sei wie das Warschauer Ghetto".

In Folge erhalten sowohl die israelische Botschaft in Berlin als auch diverse jüdische Institutionen in Deutschland täglich E-Mails, in denen der jüdische Staat als "übelster Unrat dieser Erde" und Juden wie Israelis gleichermaßen kollektiv als "Kindermörder", "Verbrecher" und "Bestien" beschimpft werden.

Morddrohungen wie "Tötet alle Israelis!" und Gewaltphantasien wie "Werft endlich die Bombe auf den jüdischen Verbrecherstaat!" werden in zahlreichen Blogs und Foren des Internets artikuliert. In Wuppertal wird ein Molotowcocktail auf die Synagoge geworfen, Deutschlandweit werden sowohl Demonstranten mit Israel-Fahnen als auch kippatragende Juden beschimpft, bedroht und attackiert. Eine Befragung belegt fast zeitgleich, dass viele Juden sich in Europa nicht mehr sicher und dass sie sich mit ihren Ängsten allein gelassen fühlen, dass manche an Immigration nach Israel denken.

Für die empirische Antisemitismusforschung ist dieser von vielen Politiker_innen als "schockierend" bezeichnete Zustand, der sich 2014

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besonders augenfällig auf den Straßen artikuliert, allerdings keine Überraschung: Schon seit über 10 Jahren konstatieren Wissenschaftler_innen weltweit einen Anstieg von Gewalt- und Verbal-Antisemitismus in der Form der anti-israelischen Variante. Diese moderne Manifestation von Judenfeindschaft zeichnet sich durch die Projektion judeophober Stereotype auf den Staat Israel und dessen Dämonisierung sowie Deligitimierung aus. Und die Bereitschaft, antisemitische Äußerungen als Israelhass auch öffentlich zu kommunizieren, wächst kontinuierlich.

International spricht man daher in der Antisemitismusforschung von einer Israelisierungs-Semantik, da kaum noch eine Debatte oder Diskussion, kaum noch ein Beitrag zu Juden und Judentum ohne Verweis auf Israel stattfindet. Eine typische Re-Aktivierung von judeophobem Denken: Denn die Gleichsetzung von Juden und Israelis sowie die daran gekoppelte übergeneralisierte Verantwortungszuweisung aller Juden für Geschehnisse in Nahost basiert auf der antisemitischen Vorstellung vom kollektiven Juden, der weltweit als ein Volk nur für seine eigenen Interessen lebe.

Keineswegs ist es allein oder primär der Nahostkonflikt, der judenfeindliche Äußerungen und Israelhass auslöst – wenngleich dieses Argument im öffentlichen Kommunikationsraum immer wieder vorgebracht wird. Und mit diesem Argument geht die Unterstellung einher, das Vorgehen der israelischen Regierung bzw. der Nahostkonflikt seien verantwortlich für den Anstieg des Antisemitismus. Dies wiederum bedient letztlich das antisemitische Klischee, es seien die Juden selbst, die für Judenfeindschaft in der Welt verantwortlich seien. Doch auch in Phasen der De-Eskalation wird judenfeindliches Gedankengut unter dem Deckmantel der Behauptung verbreitet, es handele sich um politisch legitime Kritik an Israel. Zudem zeigt 2012 die innerdeutsche Beschneidungsdebatte, wie tief judenfeindliche Konzepte und Gefühle noch immer in der Gesellschaft verankert sind und wie schnell das judeophobe Ressentiment auch bei hochgebildeten Menschen re-aktivierbar ist.

Dabei folgt der zu beobachtende Prozess einer uralten Tradition, ist also keineswegs etwas radikal Neues: Seit Jahrhunderten folgt Judenfeindschaft kontinuierlich dem Muster, die Schuld für alles Üble und Verwerfliche in der Welt prinzipiell auf Juden und Judentum zu schieben. Trotz aller sozialen, politischen und kulturellen Veränderungen: Sündenbock- und Feindbildkonstruktion sind die Grundpfeiler des alten wie auch des neuen Antisemitismus.

Um verstehen zu können, warum nicht einmal die Erfahrung des Holocaust dem antisemitischen Ressentiment den Boden entzogen hat und warum sich bis zum heutigen Tage trotz aller Aufklärungsbemühungen und Erinnerungskultur judenfeindliches Gedankengut auch in der Mitte unserer Gesellschaft hält, müssen wir uns erstens bewusst machen, was genau Antisemitismus ist und zweitens, die lange, fast 2.000 Jahre alte Geschichte der Judenfeindseligkeit betrachten.

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Warum die Juden? Warum wurden sie über die Jahrhunderte hinweg ausgegrenzt, ins Ghettoleben gezwungen, diskriminiert, stigmatisiert, unter Generalverdacht gestellt? Warum wurden sie im Zuge der nationalsozialistischen Gewaltexzesse Opfer von Erniedrigung, Schikane und Massenmord? Warum so gebündelt, so exzessiv und obsessiv immer wieder der Hass auf Juden und Judentum – und seit der Gründung Israels der Hass fixiert auf diesen einen Staat?

Diese viel und intensiv diskutierten Fragen lassen sich nur beantworten, wenn man anerkennt, dass Judenfeindschaft kein Vorurteilssystem unter vielen ist und kein Randgruppenphänomen, sondern aufgrund seiner tiefen Verwurzelung im abendländischen Wertesystem etwas kulturhistorisch Einzigartiges ist. Sich mit Antisemitismus und seinen aktuellen Manifestationen zu beschäftigen, bedeutet daher auch immer, die Geschichte der abendländischen Kultur zu betrachten, als Teil unseres kollektiven und kommunikativen Gedächtnisses.

Antisemitismus, seit dem 19 Jahrhundert die Bezeichnung für die moderne, die völkisch-rassistische Judenfeindschaft, setzt die Traditionslinie des alten Anti-Judaismus fort. Als feindselige Einstellung gegenüber Juden basiert Antisemitismus maßgeblich auf Stereotypen, d. h. geistigen Vorstellungskonstrukten, die mit der Realität nichts zu tun haben, also reine Phantasieprodukte sind.

Nehmen wir als Beispiel das Stereotyp der Blutkultlegende, das seit dem Mittelalter kursiert: Es beinhaltet den Glauben, Juden würden nicht-jüdische Kinder töten, um mit ihrem Blut rituelle Handlungen zu vollziehen. Eine reine Fiktion! Nie hat es in der Geschichte auch nur einen einzigen realen Vorfall dieser Art gegeben, doch das Gerücht über die Juden (wie Adorno Antisemitismus nannte) wird – ohne Erfahrungswerte – geglaubt und kommuniziert – bis heute, wie Filme im arabischen Raum zeigen, die jüdische Israelis als kindermordende und organhandelnde Verbrecher zeigen.

Judenfeindschaft ist ein historisch unikales Weltdeutungssystem, ein Glaubenssystem ohne jeden Bezug zur Wirklichkeit, das bei keiner anderen Form der gruppenorientierten Menschenfeindschaft so existiert. Denn Judenhass bedeutet nicht einfach nur Hass auf das Unbekannte, und Unvertraute, sondern auf das "ultimativ Andere und Böse in der Welt". Judenhass richtet sich nicht gegen einzelne Merkmale von Juden, sondern gegen die jüdische Existenz an sich.

Und so sind nicht Xenophobie, also Fremdenangst, nicht etwa schlechte Erfahrungen mit lebenden Juden oder politische Konflikte in Nahost die Basis vom modernem Antisemitismus, sondern eine jahrhundertalte Konstruktion, die die Welt in Gut und Böse, in Richtig und Falsch, in Jüdisch und Nicht-Jüdisch teilt. Eine Konstruktion, die sich über Hören-Sagen, aber auch über alle wesentlichen Schriften des Abendlandes tradiert.

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Die Genese dieser Differenzkonstruktion liegt in der Abspaltung von Juden- und Christentum vor fast 2.000 Jahren. Um sich als die einzig wahre Religion etablieren zu können, wird die Ursprungsreligion, also das Judentum, vom frühen Christentum komplett negiert. Diese Negation, die besonders zwischen dem 2. und 4. Jahrhundert theologisch gefestigt wird, führt zur Verdammnis des Judentums: Juden werden als Gottesmörder und Leugner des wahren Glaubens bestimmt und die jüdische Existenz wird zum Frevel in der Welt. Juden als die Feinde – nicht als die Feinde einer bestimmten Gruppe, sondern als Feinde der Menschheit.

In den E-Mails an den Zentralrat der Juden in Deutschland spiegelt sich diese Auffassung heute noch immer wider:

"Weltenübel", "das Schlimmste, was Gott der Menschheit angetan hat", "Abschaum der Erde", "sie "müssen ausgemerzt werden",

und anlässlich der Gaza-Krise- 2009 artikuliert ein Schreiber in seiner E-Mail an den Zentralrat semantisch und formal äquivalent diese 1.900 Jahre alte Bewertung

"ihr seits stolz auf gaza???welcher mensch kann stolz auf mord sein? ein antichrist. "ihr habt den teufel als vater". steht in der bibel! …israel – ihr habt mir die augen geöffnet. man erntet was man sät! … ich freue mich schon auf den tag eures untergangs. jener tag wird in die kosmische geschichte eingehen, als der tag wo das BÖSE besiegt wurde." [ZJD_Gaza2009_84/816_Dar_001]

Aus einer theologischen Interpretation wird im Laufe der Jahrhunderte dann eine allumfassende Ethik, aus religiöser Doktrin ein gegen die Existenz der Juden gerichtetes Deutungssystem. In diesem System wurden (und werden) über die Jahrhunderte hinweg alle Übel der Welt Juden angedichtet: verschwundene und ermordete Kinder, betrügerische Geschäfte, Brunnenvergiftungen, Krankheiten, die Pest, zerstörte Ernten, persönliche Misserfolge, verlorene Kriege, Finanzkrisen. Juden nehmen somit flächendeckend die Sündenbock-Funktion in der Welt ein.

Ganz gleich, was Juden je taten oder nicht taten, es war und ist per definitionem das Verkehrte. Je nach Situation sind die reichen Juden Kapitalisten und Ausbeuter, die armen Juden Bolschewiken und Schmarotzer, der assimilierte Jude ein Betrüger und Heuchler und Zersetzer des Volkes, der traditionsbewusste ein anpassungsunfähiger Außenseiter, der umgebrachte Jude ein Schwächling, der Überlebende ein rachsüchtiger Nörgler.

Solche dehumanisierenden und dämonisierenden Abwertungen sind charakteristisch für den Diskurs in den nächsten 500 Jahren: Juden werden als Krebsgeschwür, als Spinnen, Teufel, Unholde, als Gefahr, als Völkerkrankheit

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und Weltenübel beschimpft. Weder die Aufklärung mit ihrer vernunftorientierten Religionskritik noch der Idealismus zerbrechen diese Auffassung:

Nach über 1.700 Jahren der Diffamierung und Dämonisierung ist Judenfeindschaft so tief und unerschütterlich in den abendländischen Denk- und Gefühlsstrukturen verwurzelt, dass selbst die Denker, die sich von der alten Kirchendoktrin abkoppeln und den Weg für die Selbstbestimmung des Menschen ebnen, sich nicht davon lösen können.

Der Blick auf das 19. Jahrhundert zeigt, dass weder die zunehmende Säkularisierung in Europa noch die tiefgreifenden politischen Veränderungen und die Bildungs- und Sozialreformen die Vorbehalte gegenüber Juden zerstören. Als Anfang des 19. Jahrhunderts die moderne, auf der Rassenlehre fußende Variante des Antisemitismus aufkommt, zeigen die Schriften auch der hoch gebildeten Antisemiten, dass sie auf die gleichen Konzepte und Verbalmuster des alten Judenhasses zurückgreifen:

Der Greifswalder Professor und Historiker Ernst Moritz Arndt nennt Juden 1814 "eine Pest unseres Volkes." und ein "verdorbenes und entartetes Volk". Der Jenaer Mathematik-Professor und Philosoph Jacob Friedrich Fries charakterisiert sie 1816 als "Völkerkrankheit" und „Blutsauger des Volkes"

Im 19. Jahrhundert ist Antisemitismus auf allen institutionellen und sozialen Ebenen der deutschen Gesellschaft anzutreffen, er ist normal, alltäglich, wird offen und ohne jede Bedenken oder Zweifel kommuniziert: Judenfeindschaft findet sich auf Postkarten, in Briefen, Romanen, Pamphleten, auf Schildern, in Prospekten, in wissenschaftlichen Abhandlungen, in allen Parteiprogrammen und in Grimms Märchen. Theodor Fontane äußert wiederholt in Briefen seine eindeutig antisemitische Einstellung: Zitat "Überall stören sie … Es ist, trotz all seiner Begabungen, ein schreckliches Volk, … – ein Volk, mit dem sich die arische Welt nun mal nicht vertragen kann." So Fontane 1898.

Der moderne Antisemitismus wird artikuliert und gefestigt von meinungsbildenden, anerkannten, hochgebildeten Persönlichkeiten der Gesellschaft, ist also keineswegs ein Randgruppenphänomen. Im Berliner Antisemitismusstreit wirft der bekannte Berliner Professor und Historiker Heinrich v. Treitschke den deutschen Juden "mangelnden Assimilationswillen" vor und er sieht den Antisemitismus 1879 als "… natürliche Reaction des germanischen Volksgefühls gegen ein fremdes Element …".

Im Bildungsbürgertum diskutiert man die "Judenfrage" und re-aktiviert völkisch-nationalistisch die alte Differenzkonstruktion: Jüdischen Deutschen wird ihr Deutschsein abgesprochen, sie werden als artfremd ausgegrenzt. In der bis heute unreflektiert benutzten Phrase Juden und Deutsche oder Deutsche und Juden ist diese Differenzkonstruktion als Sprachgebrauchsmuster erhalten: Eine äquivalente Phrase wie Protestanten und Deutsche oder Deutsche und Katholiken gibt es nicht.

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In den Schriften radikalen Judenhasser gibt es auch eliminatorische Lösungsvorschläge, alle Juden umzubringen oder zu vertreiben (z.B. bei Hundt-Radowsky). Im 19 Jahrhundert verdichten sich zudem die einzelnen Stereotype zu komplexen Verschwörungsphantasien von der angeblichen Macht des sogenannten Weltjudentums und seinen Plänen, die Welt durch Kontrolle der Finanz- und Pressebereiche zu beherrschen.

Auf diesem Gedankengut, einer Mischung aus Anti-Judaismus und rassistischem Antisemitismus aufbauend, schreibt Hitler Mein Kampf, entwickeln die Nationalsozialisten die von ihnen als Endlösung bezeichnete Antwort auf "die Judenfrage", ideologisch überzeugt, mit der Ermordung von Millionen von Menschen etwas zum Guten Deutschlands und zum Wohle der Menschheit zu tun. Die für uns heute unvorstellbare Inhumanität, deren Umsetzung kalt-bürokratisch betrieben wurde, ist weder durch wirtschaftliche noch durch politische Gründe erklärbar, sondern nur durch das anti-jüdische Weltbild, das sich gegen die Existenz von Juden richtet.

Nach 1945 veränderte sich das Kommunikationsverhalten hinsichtlich der Artikulation von Antisemitismus erheblich und zwar durch die Ächtung und Sanktionierung offen verbalisierter Judenfeindschaft. Die gesetzliche und gesellschaftliche Tabuisierung bzw. Sanktionierung führte zu neuen, indirekten Kommunikationsformen: Judenfeindliche Inhalte werden heute (mit Ausnahme von rechtsextremistischen Kreisen) als sogenannte "Umweg-Kommunikation" artikuliert. Statt explizit auf Juden und Judentum zu verweisen, werden referenziell bewusst vage gehaltene Paraphrasen wie "die Banker von der Ostküste" oder "jene einflussreichen Kreise" benutzt. Über eine referenzielle Verschiebung und semantische Einengung wird auf "Israel", die "Israel-Lobby", oder die "Zionisten" referiert, aus dem Kontext aber wird ersichtlich, dass Juden gemeint sind. Anstelle von "internationalem Finanzjudentum" wird "internationales Finanzkapital" gesetzt. Und die Namen "Rothschild" und "Goldman Sachs" sind längst bekannte und usuelle Chiffren für die Stereotype des jüdischen Wuchers. Aus der judeophoben Phantasie von der jüdischen Macht, die weltweit die Fäden ziehe, wird "die Finanzlobby" oder die "Israel-Lobby", die alles lenke. Der Topos des jüdischen Weltenübels wird heute kommuniziert als "Israel ist das Übel der Welt". oder als "Israel ist die größte Gefahr für den Weltfrieden".

Während sich die Ausdrucksformen verändern und sich aktuellen Gegebenheiten anpassen, bleiben die judenfeindlichen Konzepte konstant und werden lediglich unter verbaler Camouflage kodiert.

Warum steht Israel im Mittelpunkt aller judenfeindlichen Aktivitäten? Weil Israel das wichtigste Symbol jüdischen Lebens ist. Nichts symbolisiert für Antisemiten so sehr den "kollektiven Juden" wie der jüdische Staat. Israel ist das einzige Land der Welt, über dessen Existenzberechtigung diskutiert wird. Kein anderer

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Staat wird so massiv, so heftig, so irrrational beschimpft, verdammt und verurteilt.

Seit Jahrhunderten zeichnet sich judenfeindlicher Sprachgebrauch durch die Abgrenzung, die Fixierung durch Stereotype und der Entwertung von Juden und Judentum aus. Diese drei Grundkonstanten judenfeindlicher Semantik sind ungebrochen und die Muster der historischen und der aktuellen Judenfeindschaft ähneln sich diesbezüglich frappierend, wie einige Nebeneinanderstellungen von historischen und aktuellen Beispielen verdeutlichen:

"...aber zu den Deutschen ... gehört der Jude nicht", befindet Wilhelm Sauerwein 1831 in einer antisemitischen Schrift.

2008 fragt ein Schreiber den Zentralrat der Juden in Deutschland: "Können Juden Deutsche nicht endlich in Ruhe lassen?" und impliziert damit, dass Juden keine Deutschen seien.

1570 beschimpft der Theologe und Rektor der Universität Wittenberg Wilhelm Nigrinus: "die gottlosen, lästerhaftigen, diebischen, räuberischen und mörderischen" Juden.

2008 schreibt ein Journalist an die israelische Botschaft in Berlin: "Ihr Juden ward und seit Diebe, Mörder, Betrüger, Landräuber!" [IBD_05.08.2008_Dro_001]

Auf Israel werden Eigenschaften des Konzeptes 'ewiger Jude' projiziert: Bei Rechtsextremen klingt dies so:

"Kindermörder! … Dreckiges Lumpengesindel!"

Bei einem Akademiker wird die gleiche Konzeptualisierung durch eine rhetorische Frage indirekt vermittelt:

"Entspricht womöglich die exzessive Gewalt in Israel, die auch den Mord an Kindern einschließt, der langen Traditionslinie Ihres Volkes?" fragt ein Jura-Professor den Zentralrat der Juden.

So wie rechtsradikale Antisemiten unerschütterlich dem Weltdeutungsmuster anhängen, Juden seien das Grundübel der Menschheit, so lassen sich linke Antizionisten und israelfeindliche Schreiber aus der Mitte nicht in ihrem Glauben erschüttern, Israel sei ein Frevel in der Völkergemeinschaft. Dies führt zu Argumentationsmustern, die nicht nur inhaltlich, sondern auch syntaktisch identisch sind:

"Juden sind das Übel der Menschheit und bedrohen den Weltfrieden", schreibt 2007 ein Rechtsradikaler an den Zentralrat und ein linker Journalist kommt in

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seiner E-Mail an die israelische Botschaft zu dem Schluss: "Israel ist ein Unrechtsstaat und bedroht den Weltfrieden!"

Auch Lösungsvorschläge eliminatorischer Art werden artikuliert: "Aus Sicht eines realpolitischen Deutschlands a la Merkel muss man sagen, dass sieben Millionen tote Juden (der Schreiber meint die jüdischen Bürger Israels), so schlimm das auch wäre, aber nüchtern betrachtet besser wären als sieben Milliarden tote Menschen wegen der jüdischen brutalen Weltherrschaft" [IBB_21.2.2013_Pet_001], so 2013 ein Arzt aus Paderborn.

Sowohl die Konzepte von Juden als auch von Israel sind dabei für die meisten Verfasser empirie-ferne Abstrakta: "Ich kenne persönlich keinen einzigen Menschen aus Israel, oder jüdischen Glaubens, aber ich hasse Sie, weil Sie so grausam mit den armen Palästinensern umgehen", lautet ein Schreiben an den Zentralrat 2009.

Das "Gerücht über die Juden" bzw. über Israel bezieht sich auf kein reales Objekt, sondern ist konstruiert aufgrund von sekundären Diskurserfahrungen, die letztlich kollektive Kultur- und Gefühlswerte widerspiegeln, die dem kollektiven Bewusstsein trotz der Aufklärungsarbeit nach Auschwitz noch immer inhärent sind. Die Verfasser antisemitischer Schreiben an Zentralrat und Botschaft, die der gebildeten Mitte zuzuordnen sind, benutzen dabei verschiedene Typen von Legitimierungs-Strategien, um ihre semantisch radikale Argumentation einerseits zu rechtfertigen und anderseits mittels verbaler Kodierung zu kaschieren.

Die Schreiber leugnen, antisemitisch eingestellt zu sein, präsentieren sich selbst als "verantwortungsbewusste Bürger". Dieser "Antisemitismus ohne Antisemiten" gibt sich anti-rassistisch und ehrbar, bedient sich aber nahezu aller gängigen judenfeindlichen Stereotype und Argumente, benutzt dämonisierende NS-Vergleiche.

Diese Schreiber leugnen nicht den Holocaust, sondern benutzten ihn argumentativ in Täter-Opfer-Umkehr-Aussagen: "Sie haben gut von Hitler und seinem NS-Regime gelernt" [ZJD_09.03.2008_Stra_001], schreibt ein SPD-Wähler an den Zentralrat der Juden, der sich nach eigenen Angaben für Frieden und Gerechtigkeit in der Welt einsetzt.

Die Projektion klassischer judenfeindlicher Stereotype auf Israel sowie übergeneralisierend auf alle Juden ist heute die vorherrschende Formvariante des aktuellen Antisemitismus, und sie findet sich zunehmend auch in den öffentlich einsehbaren und alltäglich genutzten Internetforen:

"Juden machen nur STRESS und besetzen ein Land das denen nicht gehört und töten Frauen und Kinder und zeigen keine Reue [...] das sind Juden .... das ist die WAHRHEIT", schreibt eine Schülerin in dem Forum hausaufgaben.de:

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Im massenmedialen öffentlichen Kommunikationsraum klingt die judeophobe Stereotypzuordnung in Kolumnen des Spiegels so:

"Orthodoxe Juden in Israel…Sie folgen dem Gesetz der Rache",

und modern adaptierte Verschwörungsphantasien werden kodiert als

"Wenn Jerusalem anruft, beugt sich Berlin dessen Willen" (Jakob Augstein, Spiegel-Kolumne, 2012).

Diese Informationen aus der Presse aufgreifend und auf alle Juden zurück-projizierend, schreiben dann Schüler konvergent an die israelische Botschaft:

"Augstein hat Recht: Juden sind voller Rache- und Machtlust". So eine Gymnasiastin an die Botschaft anlässlich Gaza 2014.

Die Sprache der Judenfeindschaft deckt eine zweitausend Jahre alte kulturell verankerte Differenzkonstruktion und eine Diffamierungsrhetorik auf, die im Wandel der Zeit zwar die äußere Form wechselt, aber kontinuierlich in ihren Inhalten ist. Die Konzepte der Judenfeindschaft, ihre Semantik bleiben unverändert – trotz aller Transformationen. Über die Sprache werden judeophobe Stereotype epochenübergreifend reproduziert und bleiben so im kollektiven Bewusstsein erhalten.

Auch die Erfahrung des Holocaust und seine intensive Aufarbeitung haben diese Tradition nicht überall gebrochen. Unser modernes Bewusstsein sieht Judenfeindschaft zwar mehrheitlich als etwas grotesk Inhumanes und Wahnhaftes an. Machen wir uns aber immer wieder klar, dass die moderne Verurteilung von Antisemitismus erst wenige Jahrzehnte alt ist und einem kollektiven Wissen gegenübersteht, das 20 Jahrhunderte lang Judenfeindschaft als normalen Bestandteil der Welt- und Werteordnung archivierte.

Nicht der mehrheitlich verurteilte und verpönte rechtradikale Vulgärantisemitismus ist heute gefährlich für die Zivilgesellschaft, sondern die unter viel Camouflage als Kritik an Israel verbreitete Judenfeindschaft im öffentlichen Kommunikationsraum. Der gegenwärtige Antisemitismus folgt dem alten Ressentiment, das sich nach den jeweiligen Situationen ausrichtet: Statt zu sagen "Juden sind das Übel in der Welt", sagt man heute "Der jüdische Staat Israel gefährdet den Weltfrieden".

Antisemitismus ist wie ein Chamäleon: Er passt sich stets den aktuellen Gegebenheiten an und verändert entsprechend seine äußere Erscheinung, er versteckt sich teilweise unter Tarnfarben mit wohlklingenden Namen wie "Meinungsfreiheit", "legitime politische Kritik" oder "Sorge um den Weltfrieden", er bleibt jedoch stets konstant in seiner Semantik der Judenfeindschaft – und diese richtet sich gegen die jüdische Existenz in der Welt.

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Monika Schwarz-Friesel ist Antisemitismusforscherin und Kognitionswissenschaftlerin. Sie leitet an der Technischen Universität Berlin als Universitätsprofessorin das Fachgebiet Allgemeine Linguistik. Sie leitete von 2007 bis 2014 das Forschungsprojekt „Aktueller Antisemitismus in Deutschland: konzeptuelle und verbale Charakteristika“ (in Kooperation mit und finanziert von Sarnat Center und Tauber Institute der Brandeis University). Seit Oktober 2014 (bis Sept. 2017): Leitung des Projekts „Verbal-Antisemitismus im World Wide Web“ (finanziert von der dt. Forschungsgemeinschaft/DFG)

Sie ist Verfasserin und Herausgeberin von 15 Büchern zur Interaktion von Sprache, Kognition und Emotion, Textlinguistik, (Verbal-)Antisemitismus und Internet-Kommunikation

Bücher (Auswahl):

– Sprache und Emotion, zweite Auflage 2013, Kognitive Linguistik, dritte Auflage 2008, Semantik, sechste Auflage 2014; Sprache und Kommunikation im Internet (mit K. Marx, 2013),

– Aktueller Antisemitismus – ein Phänomen der Mitte (mit J. Reinharz/E. Friesel, 2010),

– Die Sprache der Judenfeindschaft im 21. Jahrhundert, 2013 (mit J. Reinharz),

– Gebildeter Antisemitismus (2015).

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